Briefe von Richard Pietraß (1869-1945) an Lucie Perseke

In den folgenden drei Briefen aus den Jahren 1939, 1940 und 1942 an Lucie Perseke (eine Freundin der Familie Pietraß aus Berlin) berichtet Richard P. über seine Familie in diesen Kriegsjahren.


Martinshagen, 20.11.1939

Liebe Lucie,
ich weiß nicht, ob wir Dir den plötzlichen Tod meines Bruders Eduard schon mitgeteilt haben. Er starb an Herzschlag am 25. Mai und wurde als alter Soldat mit den üblichen Ehrenbezeugungen des Kriegervereins und unter großer Teilnahme von Verwandten und Bekannten zur letzten Ruhe bestattet. Mich hat sein plötzlicher Tod sehr betrübt. Wir haben uns seit unserer Jugend immer gut verstanden und waren bemüht uns gegenseitig mit Rat und Tat beizustehen. Drei Wochen vor seinem Ende hat er mich zu meinem 70. Geburtstag besucht und war immer noch recht auf Deck.
Von meinen Kameraden und Schulfreunden geht so einer nach dem anderen hinüber, bis auch ich abberufen werde. Nachbar Luszek, den Du ja gut kanntest, ist im Juli nach achttägiger Krankheit gestorben. Lalla, 6 Jahre älter als ich, ist trotz seiner Schwerhörigkeit noch ziemlich auf Deck, sein dickes Mariechen dito.
Frau Skrzyppek hat dieselbe Fülle wie Frau Lalla, ihre Tochter Gertraut ist mit dem hiesigen jungen Lehrer Blonski verheiratet. Er im Felde, sie zu Hause hilft das Geschäft betreuen und Geld anhäufen. Lenchen Pietraß ist schon 5 Jahre im Krankenhaus Bethanien tätig. Sie fühlt sich in ihrem Beruf recht wohl.
Mir geht es gesundheitlich gut. Ich besorge für Alfred schriftliche Arbeiten, Lohnberechnung usw, denn er sitzt dauernd auf dem Trecker, pflügt und eggt. Außerdem habe ich noch das Vergnügen, während des Krieges den Ortsbauernführer zu vertreten. Dieses ist ein undankbares Ehrenamt, denn jedem Antragsteller seine Wünsche zu erfüllen ist unmöglich.
Liebe Lucie, schreibe bald wieder mal, wir freuen uns immer recht über deine lieben Zeilen. Ob wir uns mal wiedersehen?
Herzlich grüßt Dich dein oller Onkel
Richard P.



Martinshagen, 7.9.1940

Liebe Lucie!
Schönen Dank für deinen letzten Reisebericht. Wir freuen uns, wenn Nachricht von Dir kommt. Laß Dich bloß nicht von den Tommys totschießen! Die nächtlichen Störungen sind gewiß nicht angenehm, aber sie müssen eben überwunden werden, denn, wie Du richtig sagst, es geht jetzt ums Ganze. Wir wissen aus dem damaligen Krieg ein Lied davon zu singen. Haus und Hof verlassen, ohne Ziel auf unbestimmte Zeit verreisen und von Granatsplittern verfolgt, war noch schlimmer.
Du wirst wohl denken: Nanu, der alte Onkel schwingt sich zum Briefschreiber auf! Ja, liebe Lucie, ich bin mit der Feder noch immer verwandt. Seit einem Jahr habe ich das verantwortungsvolle Ehrenamt eines Ortsbauernführers. Und da heißt es die Feder schwingen und sich verteidigen, wenn man von oben einen Rüffel bekommt, und meistens unverdient.
Nun höre weiter. Seit einer Woche ist mir meine Ehehälfte ausgerückt, und zwar reiste sie nach langem Überlegen in ihre alte Heimat und will mindestens 14 Tage dort bleiben. Mich hat sie nach langen Instruktionen als "Siegelbewahrer" zurückgelassen. Zu diesem Amt gehört auch das Blumengießen. Und da ich bei ihrer Rückkehr keinen Tadel einstecken will, bin ich sehr pflichttreu.
In der letzten Zeit bangte sich "min Minnke" dermaßen nach ihren nächsten Verwandten und an die Gräber ihrer Lieben, daß ich riet, sobald als möglich abzureisen. Ein neues Kleid lag schon bereit.
Hoffentlich wird sie von ihrem Ausflug glücklich zurückkommen. Dann wird sie Dich wohl auch mit einem Reisebericht bedenken. Weißt Du, was Tante noch im Geheimen denkt? Wenn Du dein Versprechen hältst, uns nochmal zu besuchen, will sie, falls es die Kräfte noch erlauben, Dich nach Berlin begleiten. Über Letzteres bitte aber Stillschweigen zu bewahren!
Mir geht es gesundheitlich noch immer gut. Ich kann gut essen, noch besser schlafen, tagüber in der Wirtschaft helfen, soweit die Kräfte erlauben, und augenblicklich, da die Oma fehlt, mit Klein-Dorchen Dada gehen. Stell Dir den Onkel bloß nicht so vor, wie Du ihn zuletzt gesehen hast. Der Schurrbart ist weiß geworden, aber das Kopfhaar noch nicht.
Mit Alfred und Selma verstehen wir uns sehr gut und hoffen das auch für die Zukunft.
In der Hoffnung, daß der unselige Krieg bald zu Ende geht, grüßt Dich herzlich dein oller
Onkel Richard



Martinshagen, 2. Juli 1942

Liebe Lucie!
Du hast Recht, meine Leidenschaft für "blauen Dunst" ist trotz meiner 73 noch nicht erloschen, und ich danke Dir für deine Aufmerksamkeit. Ich will versuchen, das Tauschgeschäft zustande zu bringen. Es kann sich natürlich nur um geräucherte Ware und Mehl handeln, die gleich an Dich abgesandt werden. Leider können wir als Ausgedinger über größere Mengen dieser Art nicht verfügen.
Von Alfred haben wir nach langer Zeit endlich Nachricht. Er ist als Sonderführer zwischen Minsk und Smolensk mit noch 3 Kameraden eingesetzt. Ihre Aufgabe ist, ca. 6000 ha landwirtschaftlicher Betriebe zu beaufsichtigen, die leider noch sehr primitiv sind. Die ausgesuchten praktischen Landwirte sollen da ihre Kunst beweisen.
Ernst ist zu Hause und quirlt auf seinem Mühlchen weiter. Adresse: Upalten, Kreis Lötzen.
Willy ist noch immer Gutsverwalter in Mecklenburg, bekommt Urlaub im August jeden Jahres, ob auch in diesem?
Selma hat ein arges Zahngeschwür und mußte heute zum Arzt nach Lötzen. Der Zahn ist unter großen Schmerzen gezogen, und sie muß das Bett hüten. Ihre Schwester, Frau Hilde Plenio, ist zur Vertretung. Dorchen ist gesund und singt.
Alles andere mündlich.
Es grüßt Dich herzlich
Tante u. Onkel Pietraß